Saturday, November 11, 2006

Aus der Sicht des Engels



Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluss,
der Fluss ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.

Als das Kind Kind war,
wusste es nicht, dass es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
sass oft im Schneidersitz,
lief auf dem Strand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim Fotografieren.

Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloss ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloss der Schein einer Welt der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, dass ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und dass einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?

(von: Peter Handke, aus:Himmel über Berlin", Wim Wenders)

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